Ein Arbeitnehmer darf seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat.
Weist der Arbeitgeber jedoch nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall einer finanziellen Vergütung nicht entgegen.
Entscheidungen: EuGH 6. 11. 2018, C-619/16, Kreuziger und C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften
1. Sachverhalt
Herr Kreuziger absolvierte als Rechtsreferendar beim Land Berlin seinen juristischen Vorbereitungsdienst. Während der letzten Monate nahm er keinen bezahlten Jahresurlaub. Nach dem Ende des Vorbereitungsdienstes beantragte er eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage. Das Land lehnte den Antrag ab; Herr Kreuziger focht daraufhin die Ablehnung vor den deutschen Verwaltungsgerichten an.
Herr Shimizu war bei der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschäftigt. Etwa zwei Monate vor dem Ende des Arbeitsverhältnis wurde er von der Gesellschaft gebeten, seinen Resturlaub zu nehmen (ohne ihn jedoch zu verpflichten, den Urlaub zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen). Herr Shimizu nahm nur zwei Urlaubstage und beantragte die Zahlung einer Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage, was die Gesellschaft ablehnte. Daraufhin wandte sich Herr Shimizu an die deutschen Arbeitsgerichte.
2. Fragestellung
Das deutsche Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg und das deutsche Bundesarbeitsgericht möchten wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung (hier: § 9 VO über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter bzw § 7 Bundesurlaubsgesetz) entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat.
Sie haben daher den EuGH ersucht, in diesem Kontext das Unionsrecht (hier: RL 2003/88/EG) auszulegen, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf.
3. Würdigung durch den EuGH
Der EuGH hat entschieden, dass das Unionsrecht es nicht zulässt, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäß dem Unionsrecht zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen Urlaub automatisch schon allein deshalb verliert, weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses (oder im Bezugszeitraum) keinen Urlaub beantragt hat.
Diese Ansprüche können lt EuGH nur untergehen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zB durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen, was der Arbeitgeber zu beweisen hat.
Der Arbeitnehmer ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses anzusehen. Er könnte daher davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen kann, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können.
Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen.
Jede Auslegung der fraglichen Unionsvorschriften, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken in den betreffenden Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeiträumen keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, wäre nämlich mit den durch die Schaffung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub verfolgten Zielen unvereinbar. Diese bestehen ua darin, zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt.
Der EuGH stellt weiter fest, dass die vorstehenden Grundsätze unabhängig davon gelten, ob es sich um einen öffentlichen oder einen privaten Arbeitgeber handelt.
Das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ist jedoch nicht nur in einer Richtlinie verankert, sondern auch als Grundrecht in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dieses Grundrecht geht schon seinem Wesen nach mit einer entsprechenden Pflicht des Arbeitgebers einher, nämlich der Pflicht, bezahlten Jahresurlaub oder eine Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub zu gewähren. Damit nicht im Einklang stehende nationale Rechtsvorschriften sind erforderlichenfalls unangewendet zu lassen.